Verschiedene Archivtypen

Die territorialen Verschiebungen sowie die nachfolgenden Verwaltungsreformen führten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zur Bildung zahlreicher Archive und zu neuen Formen archivischer Organisation. Die Intention des Sammelns und Archivierens wurde in dieser Zeit von ihrer Fokussierung auf die Garantie von Rechtssicherheit gelöst und die Zusammenarbeit der Archive mit den Universitäten und der landesgeschichtlichen Forschung verstärkte sich. Archive dienten ab dieser Zeit nicht mehr nur der Sicherung staatlicher Herrschaft, sondern wurden langsam auch zu Werkstätten von Historikern.
Die Frage, wo heute welcher Bestand aufbewahrt wird, hängt eng mit dessen Provenienz zusammen, also mit der Frage, von welcher Instanz die entsprechenden Unterlagen ursprünglich produziert wurden.
Es lassen sich unterschiedliche Archivtypen unterscheiden. Auf den folgenden Seiten erfährst Du anhand des Beispiels der schweizerischen Archivlandschaft, worin ihre Besonderheiten liegen.

Als erster Kanton erliess Genf am 2. Dezember 1925 mit dem «Loi sur les archives publiques» ein Archivgesetz, das die Tätigkeit des kantonalen Archivs rechtlich regelte.
Recueil authentique des Lois et Actes du Gouvernement de la République et Canton de Genève, Tome CXI, Année 1925. Genève 1926, S. 205-207.

Am Anfang der modernen Schweizer Archivgeschichte steht das französische Archivgesetz von 1794. Die Nationalversammlung wollte damit primär die Verbrennung grundherrlicher Urkunden und Zinsregister (als symbolischer Bruch mit der feudalen Vergangenheit) verhindern. Doch gleichzeitig wurde dem Archiv der Nationalversammlung als Nationalarchiv die Verantwortung für das gesamte Schriftgut der Staatsverwaltung übertragen. Das Archivgesetz sprach dem Archiv nicht nur die Aufgabe zu, Dokumente zur Rechtssicherung zu archivieren, sondern machte ebenso die historische, künstlerische und wissenschaftliche Überlieferung zu einer zentralen Aufgabe des Archivs. Darüber hinaus wurden mit dem Gesetz von 1794 die Archivalien jedem französischen Bürger zugänglich gemacht.
Das «öffentliche Archiv» setzte sich in Europa nur langsam durch. Die entstehenden bürgerlichen Staaten pflegten relativ lange Mischformen mit den herkömmlichen, obrigkeitlichen Geheimarchiven. Aber sukzessive verstärkte sich die Zusammenarbeit der Archive mit den Universitäten und der landesgeschichtlichen Forschung.

Das Schweizerische Bundesarchiv in Bern.

Im Zuge der Konstitution von Nationalstaaten entstanden im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert Archive, die das politische Handeln dieser Rechtskörper dokumentierten.
Das Schweizerische Bundesarchiv in Bern geht in seinen Beständen nicht vor 1798 zurück. Bis 1798 und von 1803 bis 1848 war die Eidgenossenschaft als Bund eigenständiger Orte organisiert. Das Bundesarchiv bewahrt entsprechend die Akten und Bücher der Helvetischen Republik (1798-1803) und des Schweizerischen Bundesstaates seit 1848 auf. Nach der kurzen Periode der Helvetik und dem Unterbruch bis 1848 war der Bundesstaat anfänglich vor allem mit Fragen der Aussenpolitik und der Landesverteidigung betraut. Seit dem letztem Viertel des 19. Jahrhunderts wurden aber sukzessive Aufgaben von den Kantonen zum Bund verlagert. Dies spiegelt sich direkt in den Beständen.

Die sogenannten Staats-, Kantons- oder Landesarchive bewahren die Unterlagen der Kantone und ihrer Rechtsvorgänger auf. Thematisch schliessen diese für die Zeit bis 1798 und den Zeitraum 1803-1848 die Beziehungen der Stände untereinander und die Aussenpolitik mit ein. Zudem verfügen die kantonalen Archive der alten Orte in der Regel über Schriftgut ehemaliger Herrschaften, Gerichte und Vogteien, das bis ins Mittelalter zurück reicht. Zudem besitzen viele von ihnen Archivbestände säkularisierter Stifte und Klöster. Und die meisten bewahren neben Unterlagen staatlicher Provenienz auch zahlreiche Bestände privater Provenienz (Personen-, Familien-, Vereins- und Firmenarchive) auf.
Als Beispiel eines wichtigen kantonalen Archivs bietet Dir Ad fontes eine Einführung in die Quellensuche im Staatsarchiv Zürich.

Das Stadtarchiv Zürich befindet sich am Neumarkt im Haus zum Rech.
Bild: Natalia Sverdlova, Stadtarchiv Zürich (im Haus zum Unteren Rech), CC BY-SA 3.0

Fast alle Gebietskörperschaften auf kommunaler Stufe - Städte, Gemeinden und Täler - führen eigene Archive, da die Gemeindehoheit in der Schweizer Rechtstradition stark verankert ist. Die Bestände der einzelnen Archive unterscheiden sich in Umfang und zeitlicher Dimension. Grundsätzlich umfassen sie die Quellen, die aus der Tätigkeit der Kommune entstanden sind. In manchen Kantonen führen Schulen und Pfarreien (als eigene Schul- bzw. Kirchgemeinden) eigene Archive. Häufig übernehmen auch kommunale Archive Nachlässe und Sammlungen, die mitunter über die Ortsgeschichte hinaus von Interesse sein können.
Da kommunale Archive in den meisten Fällen nicht professionell geführt werden, bieten gewisse Kantone für besonders wertvolle ältere Bestände kommunaler Archive (vorübergehend) Magazinraum.
Eine Schwierigkeit bei der Benutzung kommunaler Archive kann deren mangelnde Zugänglichkeit (Öffnungszeiten) sein. Deshalb ist hier teilweise eine gewisse Geduld und Hartnäckigkeit erforderlich, um zur verantwortlichen Person zu gelangen. Benutzerseitiges Selbstbewusstsein ist aber durchaus angezeigt. Denn grundsätzlich gilt: Archive von öffentlichen Körperschaften sind in demokratischen Rechtsstaaten öffentlich zugänglich.

Das Kloster Einsiedeln besitzt eines der ältesten und grössten nicht-staatlichen Archive in der Deutschschweiz. (Foto: Werner Bösch)

Umfang und Bestände der geistlichen Archive (Kloster-, Stifts-, Diözesan- und Pfarrarchive) in der Schweiz sind sehr unterschiedlich. Einzelne Archive verfügen über einen geschlossenen Gesamtbestand, andere weisen mindestens eine hohe Kontinuität auf und wieder andere verzeichnen Neueingänge bis in die Gegenwart. Die geistlichen Archive können über den Öffentlichkeitscharakter ihrer Archive selber bestimmen.
Ihr Quellenmaterial gibt natürlich Informationen zur geistlichen Kultur und kirchlichen Organisation. Die Tauf-, Ehe- und Sterberegister sind zudem zentrale Quellen für die Bevölkerungsgeschichte und die Familienforschung. Eine besondere Bedeutung kommt den mittelalterlichen Beständen in geistlichen Archiven zu. Häufig findest Du ausschliesslich dort Quellenmaterial zur Herrschaftsorganisation in jener Zeit.
Ad fontes bietet Dir eine Einführung in die Geschichte, die Organisation und die Findmittel des Klosterarchivs Einsiedeln. Zahlreiche Beispiele in Ad fontes stammen aus diesem besonders wichtigen geistlichen Archiv in der Nordostschweiz.
Es ist aber keineswegs das einzige geistliche Archiv von überragender Bedeutung in der Schweiz; man denke etwa an das Stiftsarchiv St. Gallen, die Abtei St-Maurice oder das Archiv des alten Fürstbistums Basel in Pruntrut.

Dieses Dossier aus dem Nachlass des Zürcher Arztes und Schriftstellers Fritz Brupbacher (1847-1945) umfasst Korrespondenzen, handschriftlichen Notizen, Postkarten und Fotos.
Schweizerisches Sozialarchiv, Ar. 101.30.10, Nachlass Fritz Brupbacher, Briefe S.

Das weite Feld der unterschiedlichen Archivtypen reicht über die bisher vorgestellten Archive hinaus. Die folgenden Archive unterscheiden sich durch inhaltliche und funktionale Kriterien. Gemeinsam ist ihnen aber ihre Fokussierung auf nicht-staatliches Archivgut.
Personennachlässe sind nicht selten noch in privatem Besitz, was deren Zugänglichkeit erschweren kann. Sie dokumentieren zum Beispiel die Geschichte von Adelsfamilien und deren Herrschaftstätigkeit (Gerichtsherrschaften), aber auch die private Geschichte alter Geschlechter im engeren Sinn (Korrespondenz) oder deren Geschäftstätigkeit. Zahlreiche Personennachlässe finden sich in öffentlichen Archiven, oft auch in Bibliotheken.
Medienarchive werden häufig von Medienunternehmen geführt und sammeln ihre eigenen bzw. die von ihnen zugekauften Produkte. Es bestehen Film-, Tonträger-, Bild- und Pressearchive. Der quellenkritische Umgang mit visuellem, auditiven und multimedialem Quellenmaterial bedarf der besonderen Vorbereitung.

In diesem Teil des Ramsteinerhofs in Basel befindet sich das Privatarchiv der Familie Iselin. Foto von David Hänggi-Aragai.

Neben staatlichen Archiven, Firmenarchiven und kirchlichen Archiven gibt es die Kategorie der Privatarchive. In den meisten Fällen handelt es sich um Familienarchive, die Nachlässe enthalten. Privatarchive sind in den meisten Fällen nicht öffentlich zugänglich und haben keine Internet-Domain. Sie zu finden, kann eine Herausforderung sein.
Es ist unmöglich zu sagen, wie viele Privatarchive in der Schweiz existieren, da bisher keine Auflistung existiert. Eine klare Definition, ab wann eine Sammlung von Erinnerungsstücken als Privatarchiv bezeichnet werden kann, gibt es nicht und ist wahrscheinlich auch nicht sinnvoll. Eine gewisse Menge an Material und eine Organisation einschließlich eines Katalogs werden jedoch erwartet.
Privatarchive können für eine Vielzahl von Themen und Fragestellungen nützlich sein, wobei die biografische Forschung wohl am offensichtlichsten ist. Die Recherche in einem Privatarchiv ist in den meisten Fällen zeitintensiver als in anderen Archivtypen.
Ad fontes bietet einen virtuellen Besuch im Privatarchiv der Familie Iselin in Basel an (Übung auf Englisch). Mit einer konkreten Aufgabenstellung meistern Sie die virtuelle Recherche im Archiv einer der bekanntesten Basler Familien.

den 1920er Jahren.
Schweizerisches Sozialarchiv Zürich, Ar. 1.126.18 / Ar. 1.110.11.

Parteien- und Vereinsarchive umfassen Unterlagen, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit der entsprechenden Institution stehen, also beispielsweise bei der politischen Arbeit entstanden sind. Auch diese Art von Privatarchiven ist oft öffentlich zugänglich, zumal Parteien und Vereine in der Regel ein hohes Interesse an der Überlieferung ihrer Tätigkeit haben. Deshalb schliessen sie häufig Depot- oder Schenkungsverträge mit kantonalen oder kommunalen Archiven ab.
In Hochschularchiven findet sich Schriftgut der Universitätsleitung und -verwaltung, der Fakultäten und Institute sowie der studentischen Gremien. Einzelne Hochschularchive sind in kantonale Archive integriert oder haben die Funktion eines «Zwischenarchivs», bevor die definitive Ablieferung von Unterlagen ins zuständige kantonale Archiv erfolgt.
Nachlässe von Gelehrten befinden sich lange nicht immer in Hochschularchiven, sondern werden häufig in anderen Archiven oder in Bibliotheken gesammelt.

Das Bild zeigt das Magazin des alten Wirtschaftsarchivs im Kollegiengebäude der Universität Basel (ca. 1940).
Schweizerisches Wirtschaftsarchiv, Archiv des SWA 1910-1993, Nr. 30.

Wirtschaftsarchive dokumentieren die Geschichte von Firmen und gewerblichen Fachzweigen. Sie sind für die Technik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte von zentraler Bedeutung. Das Bewusstsein für die Bedeutung einer kontinuierlichen Dokumentation entwickelte sich in der Wirtschaft erst allmählich, weshalb die Frage der Überlieferungsdichte bei Wirtschaftsarchiven besonders problematisch sein kann. Unternehmen legen den Zugriff auf ihre Aktenbestände selbständig fest. Viele Wirtschaftarchive sind aber auch öffentlich zugänglich. Eine gute Übersicht bietet diesbezüglich das Verzeichnis der Wirtschaftsarchivvbestände der Schweiz arCHeco.
Spezialarchive sammeln Material zu einem bestimmten Sachgebiet oder aus einem spezifischen thematischen Kontext - beispielsweise zur «Sozialen Frage» (wie das Sozialarchiv in Zürich) oder zur Privatwirtschaft in der Schweiz (wie das Wirtschaftsarchiv in Basel).
Spezialarchive verfügen - trotz ihres irritierenden Namens - in erster Linie über dokumentarischen und nicht über archivalischen Charakter im Sinne der Gewährleistung von Rechtssicherheit. Spezialarchive heissen also zwar Archive, sind aber eigentlich Sammlungen oder Dokumentationszentren.

Die Schweizer Archivlandschaft. Ausgehend von einer Schweizer Karte bietet der Verein Schweizerischer Archivarinnen und Archivare (VSA) auf seiner Homepage einen Überblick über die bestehenden Archive in der Schweiz: http://vsa-aas.ch/die-archive/archivadressen/archivadressen-schweiz/

Die zahlreichen skizzierten Archivtypen überschneiden sich in ihrer Tätigkeit teilweise territorial, funktional und inhaltlich.
Staatliche, kantonale und kommunale sowie geistliche Archive interessieren sich für die Verwaltungstätigkeit auf ihrer institutionellen Ebene und in einem bestimmten geographischen Raum. Ihnen gegenüber stehen die verschiedenen kleineren Archive und Sammlungen, die historisches Material zu einem bestimmten Sachgebiet oder zur Geschichte eines bestimmten Konzerns oder einer Familie sammeln. Diese Ausgangslage verkompliziert die Quellensuche, da sich der Historiker mit seiner Fragestellung sowohl in einem geographischen Raum als auch im Tätigkeitsbereich einer Firma oder einem Sachgebiet gleichzeitig verorten kann. Es fehlt aufgrund der parallelen Informationsstränge einerseits die Eindeutigkeit, bei welchem Archiv das geeignete Quellenmaterial zu finden ist. Andererseits stellen gerade die kleineren Archive und Sammlungen ein wichtiges Auffangbecken für jene Überlieferungsstücke dar, die im institutionellen Netz der staatlich-administrativen Archive womöglich «durch die Maschen» fielen.
Aufgrund der skizzierten Problematik versuchen die Archive gemeinsam, die Quellensuche für die Benutzerinnen und Benutzer zu erleichtern. Eine Möglichkeit dazu bietet beispielsweise eine Online-Suchplattform, welche die übergreifende gleichzeitige Metasuche in mehreren Archiven erlaubt. Die Staatsarchive Zürich, Thurgau, Zug und Basel-Stadt sowie das Archiv für Zeitgeschichte der ETH haben am 13. Juli 2010 die Website Archives Online lanciert. Laufend werden weitere Archive dazukommen.